Vonderdehnbarkeitdesfadens
Aus Ihrem Studienfach Malerei, das zunächst durch spontane starkfarbige großgestische Arbeiten gekennzeichnet war, entwickelte Dorothee Herrmann in den letzten Jahren immer mehr präzise überlegte Inhalte, schränkte ihre Farbigkeit ein und wandte sich einem Material zu, das eher dem lange Zeit wenig anerkannten weiblichen Erfahrungsbereich zugeordnet wurde, dem Faden. Mit Nadel und Faden werden Papierbögen gestochen, benäht, durchwirkt und zu freien phantasievollen Kompositionen umgarnt. Genähtes und Gestricktes, auch die Schere kommt zum Einsatz, verbinden sich mit Fotografiertem, mit Keramik, mit Holz, Marriagen untereinander, oft aus einem ironischen weiblichen Blickwinkel heraus. Die „formalästhetische Handhabung eines Küchentuchs“ befragt sinnvolles Tun in unserem Alltagsleben: müssen Socken gebügelt werden?
Auch die bestickte Ausgussrosette mit dem beziehungsreichen Titel: „Zum Muttertag“ impliziert die Frage nach einem: Was wird hier eigentlich geehrt? Dorothee Herrmanns Arbeiten sind keine Fern-seh- , eher Nah-seh-bilder, die nicht durch farbige Opulenz, sondern durch ihre feingewirkte Ästhetik zum nachdenklichen Schauen und Fabulieren einladen.
Seit ein paar Jahren erhalten die Fadenzeichnungen eine immer größere Bedeutung in ihrer Arbeit. Die dreidimensionale Erweiterung der gezeichneten Linie, der Faden als einfaches, unprätentiöses „armes“ Material, ich erinnere an die arte povera, der allerdings eine uralte Kulturgeschichte aufweisen kann, denkt man an die Metaphern, die mit ihm gebildet werden können: den Faden in der Hand halten, den roten Faden nicht verlieren, (Wussten Sie eigentlich, dass die englische Marine ihre Taue mit einem roten Faden als Besitztum der Krone kennzeichnete?) und viele andere mehr. Auch Johann Wolfgang von Goethe beschäftigte sich mit der Sinnbildlichkeit des Fadens.
Was Wunder also, sich den Faden in seinen Erscheinungsformen als künstlerisches Material auszuwählen und ihn auf seine Verwendbarkeit in vielerlei Kontexten hin zu untersuchen. Dorothee Herrmann hat so im Laufe der Zeit eine autonome Bild- und Objektsprache entwickelt.
Ihrem Island-Zyklus ging eine Serie von über 70 kleinen benähten Collagen mit dem Titel: „denk ich an grönland“ voraus. Sie hatte diese Insel allerdings noch nie betreten, stellte sie sich nur so vor. Die Reise nach Island erfolgte erst danach, quasi als Überprüfung von ähnlichen Landschaftsstrukturen, die unsere urbane, bunte, oft schrille und laute Welt außen vorlassen. Und siehe da, sie kamen ihrer Vorstellung ziemlich nahe und so folgte die sehr reduzierte Bildsprache dieser kargen Landschaft, in der der „Blick dicht“ eingestellt werden muss, um das Eigentliche, das Besondere, das Wertvolle zu erkennen.
Es geht Dorothee Herrmann nicht um das Abbilden von Natur, sondern um das Verstehen und das Übersetzen von Erscheinungsformen, Überlebensstrategien, Spielarten und Prozessen wie Anpassung, Entwicklung, Umwandlung, Durchdringung in eine eigene unverwechselbare Bildsprache.
Irritationen mit kräftigen Papierverletzungen sind einkalkuliert. Die Nadel traktiert den empfindlichen Papierträger. Durch die Gleichzeitigkeit von Perforation und das Zusammengehaltenwerden durch den Faden entstehen reliefartige Ausbuchtungen. Die Fadenlinie hat der gezeichneten voraus, dass sie sich real in den Raum hinein bewegen kann, also zur Raumzeichnung wird. So entsteht ein Wechselspiel von Vorstellung, Wirklichkeit und Veränderbarkeit (Illusion, Realität und Variabilität). Beispiele dafür bilden auch die Arbeiten, die mittels der Strickliesel, einem aus Kindertagen bekannten Spiel- und Werkzeug entstanden sind. Dazu gehört auch das oben präsentierte streng angeordnete gestrickte Feld mit dem Titel: „manchmal wachsen Blumen schwarz“. Der metaphorische Charakter dieser Arbeit wird beim Betrachten sofort spürbar, steht er doch für das, was in wohl jedem Menschenleben vorkommt. Durch die Erfahrung aus der Projektarbeit mit den Obdachlosen ist sie ans Werk gegangen. Die Wahrnehmung von Obdachlosen, die sich mit Kunst beschäftigen ist eine ganz andere als die, die andere, aber auch sie selbst von sich haben. Ihr Selbstwertgefühl hatte sich durch die Projektarbeit wesentlich gesteigert.
Für dieses Blumenprojekt hat Dorothee Herrmann den Kontakt zur Justizvollzugsanstalt Aichach in Bayern gesucht. Nach einigen Hürden durften dann interessierte Frauen mit Ihr drinnen, aber auch Freundinnen und Bekannte draußen an den Schnüren arbeiten. Sie formte die Schnüre , verstärkt mit Draht zu schlicht gezeichneten Blumen. So entstand im Laufe von 3 Jahren ein 500 teiliges „Feld der Erinnerung, der Mahnung aber auch der Hoffnung“ - die letzte Blume trägt ein grünes Blatt. Die Zeit ist bei vielen ihrer Arbeiten ein nicht unwichtiges Element. Zeit zu vertun, sisyphusale Gestaltungsprozesse in fast meditativer Handarbeit, auch bei vielen anderen ihrer Arbeiten, sind ebenfalls ein Statement für Reflektion, ein Kontrapunkt zu Schnelllebigkeit und Effizienzdenken in unserer Zeit.
Helmut Ernst, 2019